Lehrerin, Schauspielerin – und Dompteurin

Martina Scherf (Deutschland)

Meine Traumberufe

Ich wollte entweder Schauspielerin oder Lehrerin werden. Die Schauspielschule hat mich nicht genommen – vielleicht die richtige Entscheidung. Es gibt schon genügend mittelmäßige Schauspieler. Beide jedenfalls meine Traumberufe, und beide sind sehr gut miteinander vereinbar, denn wenn ich mich als Lehrerin vor die Klasse stelle, gilt das Gleiche wie bei einem Schauspieler, der es schaffen muss, einen Bezug zu seinem Publikum herzustellen wie ich den Bezug zu meiner Klasse.

Den Ehrgeiz der Schüler/innen wecken

Kinder folgen dem Unterricht nur, wenn sie sich für das Geschehen interessieren und motivieren lassen. Also muss ich dem Niveau des Kindes folgen, um es mitzunehmen, und zwar jedes einzelne auf seinem Niveau. Das durchschnittliche Kind muss das Gefühl haben, dass es eigentlich viel mehr kann, das gute darf glauben, dass es über der Masse steht, aber auch dessen Ehrgeiz soll geweckt werden, dass die eigenen Rekorde noch zu brechen sind, und das ängstliche, unentschlossene soll am Ende der Stunde sagen können: Ich kann es auch.

Jede/r soll im Unterricht nicht nur lernen, jede/r soll auch Spaß haben. Aber Spaß stellt sich nicht von allein ein, da braucht es den Schauspieler, ja sogar den Dompteur. Am Anfang der Unterrichtsstunde belagern die Matten in der Turnhalle gackernde Hühner, träge Seerobben und lauernde Löwen. Diesen Affenzirkus locke ich, indem ich meinen Affen Zucker gebe. Wer mitmacht, bekommt ein Gummibärchen. Das funktioniert in allen Klassenstufen. Man mag kaum glauben, wie motivierend ein Gummibärchen sein kann. Da klappt doch plötzlich tatsächlich die gehasste Rolle rückwärts.

Löwen und Robben

Die Löwen rührt das natürlich gar nicht, doch die Raubtiere gilt es als erstes zu bändigen, sonst ist die Stunde gelaufen. Denen werfe ich einen Brocken hin, gebe bewusst Ziele vor, die weit über dem Leistungsziel stehen, zeige die Übungen selbst vor, tue dabei so, als ob es mir spielend leichtfällt, fordere dazu auf, mich zu übertreffen. Ich muss den Ehrgeiz so weit herausfordern, dass sie mich übertreffen wollen. Da muss ich mich mal groß machen, mal kleiner, als ich bin. Der zäheste Stier kann keinen Frieden finden, wenn er, der Alleskönner, nicht das kann, was ich kann.

Am schwierigsten sind die „Seerobben” mitzunehmen, denen jegliches Selbstvertrauen fehlt. Da muss ich mich klein machen, ganz klein. Es geht eigentlich weder ohne noch mit Hilfestellung, aber es muss und es wird gelingen. Man stelle sich eine 90 kg schwere Schülerin vor, die völlig resigniert an den Stufenbarren tritt, wo sie den Aufschwung zum oberen Holm turnen soll. Erste Vorarbeit: Überredungskünste mit dem Nachsatz „Es wird alles gut!”. Nachdem das Kind nun guten Mutes ist, starte ich mit der Schwerstarbeit. Die 90 kg stemme ich mit Hilfe eines zweiten Schülers zum oberen Holm und gebe dabei dem Kind das Gefühl, dass es das aus eigener Kraft geschafft hat. Und wenn dann nach diesem Schwerstakt die Schülerin sagt, dass sie es gern noch einmal probieren möchte, dann gehe ich an diesem Tag glücklich nach Hause und pfeife auf die Schmerzen im Handgelenk.

Erfolg ist kein Selbstlauf

All das fügt sich nicht im Selbstlauf. Ich muss von meinen Schüler/innen auch lernen wollen, muss deren Sprache sprechen, muss die Distanz Lehrer/in – Schüler/in möglichst klein halten, vielleicht ganz aufheben. Wenn die Themen der Jugendlichen den Unterricht dominieren, entsteht keine Langeweile. Wo passt das besser als im Sportunterricht! Das Internet ist voll von Trendsportarten – nützliche und unsinnige. Beherrschen dürfen diese den Unterricht nicht, aber um die Schüler/innen mitzunehmen, finde ich solche Mittel nur recht.

Ergo: Die Lehrperson als Schauspieler/in hält das Feld zusammen, fördert dennoch jeden, fordert die Besten, gibt, so schwer es fällt, eigene Fehler zu, greift Vorschläge der Schüler/innen auf. Wenn die Schüler/innen Spaß am Unterricht haben, dann geht es mir gut! Und Pädagogik lernen, reicht nicht – man muss sie leben!